Tagung 2012

Tagungsband „Unterhaltung und Vergnügung“

 

Wir freuen uns, das Erscheinen des ersten Tagungsbandes der Kommission bekanntgeben zu dürfen:
Christoph Bareither / Kaspar Maase / Mirjam Nast (Hg.): Unterhaltung und Vergnügung. Beiträge der Europäischen Ethnologie zur Populärkulturforschung. Mit einem Vorwort von Hermann Bausinger. Würzburg 2013.

[Download: Cover, Inhalt und das Vorwort von Hermann Bausinger].


„Kulturen populärer Unterhaltung und Vergnügung“

Universität Tübingen, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, 15. bis 17. Juni 2012

 

Das Tagungsprogramm als PDF-Datei finden Sie hier.

Mit dieser ersten Arbeitstagung will die neu gegründete Kommission „Kulturen populärer Unterhaltung und Vergnügung“ (www.kpuv.de) in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde zur Selbstverständigung volkskundlich-kulturwissenschaftlicher Populärkulturforschung beitragen. Das weit gefasste Thema soll dazu anregen, Gegenstände, Abgrenzungen, Unterscheidungen und zentrale Begrifflichkeiten in einem offenen Forschungsfeld zu diskutieren.

Wie könnte man „Unterhaltung“ und „Vergnügung“ bestimmen? Wie lässt sich eine volkskundlich-kulturwissenschaftliche Perspektive auf diese Begriffe entwickeln? Was sind Gemeinsamkeiten und Differenzen? Bezieht sich „Unterhaltung“ eher auf ein vorgegebenes (meist kommerzielles) Angebot und dessen Nutzung, während „Vergnügung“ stärker die Eigenaktivität eines großen und öffentlich agierenden Publikums (beim Feiern, Festen, Tanzen etc.) beleuchtet? Was bringt das Konzept des Populären für entsprechende Untersuchungen? Und welche Argumente sprechen dafür, in diesen Feldern „Kulturen“ zu verorten?

Die Arbeitstagung versammelt Beiträge in der ganzen Breite möglicher Gegenstände, Themen und methodischer Zugriffe: gegenwartsbezogen und historisch; empirische Fallstudien und Überlegungen, die Analytisch-Kategoriales fokussieren; hermeneutische Textuntersuchungen und Ethnographisches. Selbstverständlich sind auch Nichtmitglieder der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde und der Kommission eingeladen.

Schlusskommentar von Brigitte Frizzoni

Den Rückblick auf die Eröffnungstagung der Kommission KPUV möchte ich im Namen aller beginnen mit einem grossen Dankeschön ans Organisations- und Gründerteam: Vielen Dank an Kaspar Maase, Mirjam Nast, Christoph Bareither samt Team für die perfekte Organisation und die herzliche Gastfreundschaft – die wohlwollende und konstruktive Atmosphäre im LUI ermöglichte uns allen einen vielversprechenden, anregenden Austausch über Kulturen populärer Unterhaltung und Vergnügung, so dass wir uns alle schon auf die nächste Tagung freuen.

In aller Kürze sollen im Folgenden einige Themen, Diskussionspunkte und Fragen, die sich im Laufe dieser Tagung ergaben, für die Schlussdiskussion rekapituliert werden.

Die Tagung wurde eröffnet mit einer „intellektuell-vergnüglichen Dehnübung“, wie Claus-Mario Dieterich so schön formulierte: Hermann Bausinger (Tübingen) las aus seinen „Zappgeschichten“ die Erzählung „Das falsche Leben“ vor – ein Titel, der bereits einen der zentralen Diskussionspunkte der Tagung anspricht, und zwar die diskursiven Setzungen, die langlebigen Abwertungen des Vergnügens als unecht, falsch und oberflächlich. Dass dieser Diskurs aber keinesfalls die (bildungsbürgerliche) Praxis des Sich-Vergnügens abbildet, macht die Erzählung deutlich: Die intellektuelle Silke, die das „unechte Leben“, das in Soaps transportiert wird, vor ihrem Partner aufs Heftigste kritisiert, schaut mit großem Vergnügen heimlich Die Lindenstrasse, wenn dieser außer Haus ist.
Solche bis heute wirksamen Oppositionen – unecht vs. echt, unten vs. oben, oberflächlich vs. tief, zerstreut vs. konzentriert – waren auch Gegenstand von
Jens Wietschorkes (Wien) Beitrag, der sich der historischen Semantik des Begriffs „Vergnügen“ und der bildungsbürgerlichen Kritik am „sinnlichen Vergnügen“ im Unterschied zum „wahren Vergnügen“ seit dem 18. Jahrhundert widmete.

Die Alltags- und Akteurzentrierung in der Beschäftigung mit Kulturen populärer Unterhaltung und Vergnügung bestimmte Kaspar Maase (Tübingen) in seinem programmatischen Beitrag als konstitutiv für die dgv-Kommission KPUV. Gleichzeitig sei aber auch die ästhetische Verfasstheit der Unterhaltungsphänomene zu berücksichtigen. Er charakterisierte Populäre Kulturen als relational und dynamisch bestimmt, als Resultat von Beziehungen zwischen allen „artistic cultures“ von Hochkunst bis Subkultur, als dynamisches Netzwerk von Dingen und Aktivitäten mit vielen Beteiligten (Künstlern, Agenten, Unternehmern, Kritikern, Publikum, Fans, Mediengeräten etc.). In dieser Dynamik machte er sechs Kernprozesse bzw. Elemente aus: ökonomische Interessen, „paraindustrielle“ Herstellungsmethoden, Marketingmethoden, Hyper-Konnektivität und Affektivität, Habitus, populär zu sein, sowie Selbstreferentialität. Damit präsentierte er ein wertvolles analytisches Instrumentarium zur Beschäftigung mit Populären Kulturen. Zentral zur Bestimmung von Populärer Kultur sei nicht die Frage „Was ist Populäre Kultur?“, sondern „Wann geschieht Populäre Kultur – welche Phänomene unter welchen Bedingungen, in welchen Situationen, als Ergebnis welcher Handlungen und Interaktionen welcher Akteure, vielleicht auch: mit welchen Auswirkungen – und wie unterscheidet sie sich jeweils von welchen Verwandten?“.

Ob solche differenzierten Analysen von Texten, Kontexten, Akteuren und Dynamiken als Einzelforschung überhaupt zu realisieren sind, ob es dazu nicht anderer Forschungsstrukturen bedarf und welcher Ästhetikbegriff der berechtigten Forderung nach Berücksichtigung der ästhetischen Verfasstheit von Unterhaltungsangeboten zugrundeliegt, wäre zu diskutieren.

Ebenfalls zu diskutieren wäre die Relation von Unterhaltung und Vergnügung – Begriffen, die von manchen während der Tagung synonym verwendet wurden. Kaspar Maase schlug als Abgrenzungskategorie „Eigenaktivität“ vor. Unterhaltung bezeichne die private Rezeption von Unterhaltungsangeboten, Vergnügung die eigene Performanz, die „Eigenaktivität“.

Nach diesem programmatischen Beitrag fokussierten elf weitere Referierende in fünf thematischen Panels in unterschiedlicher Weise Akteure, Orte, Aktivitäten und Phänomene der Unterhaltung.

Zwei Referenten diskutierten Formate des Reality TV und der Kultur der Kompetitivität, der Konkurrenz und des Kampfes als populäre Formen der Ver- und Bearbeitung von gesellschaftlicher Leistungsanforderung:

Markus Tauschek (Kiel) machte deutlich, wie Leistung als Grundprinzip der Gesellschaft via Castingshows repräsentiert, popularisiert und reflektiert wird. Als Effekt solch inszenierter Kompetitivität lässt sich etwa die Wahrnehmung bzw. Rahmung von Bewerbungsgesprächen, aber auch von privaten Rendezvous als Casting deuten.
Sebastian Kestler-Joosten (Würzburg) analysierte die Reality-TV-Serie The Ultimate Fighter mit ihren idealisierten Männlichkeits- und Körpervorstellungen u.a. als mögliche Plattform für die Rekrutierung amerikanischer Streitkräfte. Welche Aspekte dieser Idealisierung für Rezipierende bedeutsam werden können, liesse sich z.B. mittels ethnografischer Zugänge sowie einer Analyse der Dramaturgie und Ästhetik der Serie genauer bestimmen.

Populären Lesestoffen widmeten sich zwei weitere Referentinnen:

Am Beispiel der SF-Serie Perry Rhodan beschäftigte sich Mirjam Nast (Tübingen) mit einem in der Populärliteraturforschung bisher vernachlässigten Aspekt, den Rezeptionspraktiken: Vergnügen bereitet den Rezipierenden offenbar nicht primär das naheliegende entspannte Abschalten, sondern vielmehr arbeitsintensive Rezeptionstätigkeiten wie Lesestoffbeschaffung, Lesen, Sammeln, Kommentieren und kreatives Weiterschreiben.
Akemi Kenshiro-Hauptmann (Berlin) präsentierte ein dichtes Netz unterschiedlicher populärkultureller Formate, Praktiken und Orte des heutigen Erzählens der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm.

Mit der Multifunktionalität und dem Funktionswandel von Orten und Räumen populärer Unterhaltung und Vergnügung beschäftigten sich die Vorträge von Darijana Hahn (Hamburg) und Birgit Speckle (Würzburg) am Beispiel von Kiosk, Gaststätte, Jahrmarkt und Spielplatz bzw. Tanzsälen in Dorfwirtshäusern. Tanzsäle dienten nicht nur Tanzveranstaltungen, sondern u.a. als Konzertsaal, Kino, Theatersaal und für Turnvorführungen, aber auch für politische Veranstaltungen, die dort ebenfalls in unterhaltsamem Kontext erfahren werden.

Dass sich die Atmosphäre in Räume und Orte einschreibt, verdeutlichte auch Jochen Bonz‘ (Bremen) Abendvortrag zu Vergnügungen der Fussballfans am Beispiel von Klangaufzeichnungen (soundscapes) aus einem Fussballstadion. Die Atmosphäre der Freundschaftlichkeit, die diesen Ort prägt, schlägt sich nieder im freundschaftlichen Miteinander-Reden. Die Ethnografie der Sinne und die Autoethnografie erweisen sich als fruchtbarer Zugang zur Erforschung von Kulturen populärer Unterhaltung und Vergnügung. Zudem regte Jochen Bonz‘ Vortrag dazu an, darüber nachzudenken, ob psychoanalytische Konzepte nutzbar gemacht werden könnten für die Untersuchung populärer Unterhaltung und Vergnügung. Fragen nach geeigneten Zugängen und Methoden wurden während der Tagung mehrfach gestellt und ließen sich auch mit Blick auf weitere Tagungsthemen nochmals aufgreifen.

Am Beispiel des 20. Jubiläums der „Samtenen Revolution“ in Tschechien diskutierte Marketa Spiritova (München/Regensburg) die Frage, ob sich Erinnerungskultur und Unterhaltung produktiv verbinden lassen oder ob zwangsläufig eine Instrumentalisierung der einen oder anderen Seite zu beobachten sei. Wer nutzt bzw. instrumentalisiert wen bzw. was – sind es die offiziellen Veranstalter, die Bands engagieren, um ihre erinnerungspolitische Botschaft erfolgreicher zu übermitteln, oder sind es kommerzielle Unternehmungen, die Erinnerungskultur nutzen, um ein Geschäft zu machen?

Die Frage nach der Instrumentalisierung stellte auch Magdalena Puchberger (Wien), und zwar am Beispiel des Volksbrauchtums im Wien der 1930er Jahre; in auffälliger Weise versuchten in dieser Zeit volkskundliche Zirkel und Verbände über Brauchtums- und Festgestaltung ideologischen Einfluss zu nehmen.

Die beiden letzten Beiträge beschäftigten sich mit zirkulierenden Vorstellungen von Grenzverwischungen zwischen Fiktionalität und Realität, zwischen Imaginärem und Realem in der Rezeption von Unterhaltungsangeboten.

Moritz Ege (München) stellte in seinen ethnografischen Untersuchungen unter jugendlichen Rap- und Hip-Hop-Musikkennern fest, dass diese ihre eigene Fähigkeit der spielerisch-selbstreflexiven Identifikation betonen, anderen hingegen mangelnde Unterscheidungskompetenz und Realitätsverlust zuschreiben, um sich von ihnen abzugrenzen.

Christoph Bareither (Tübingen/Berlin) untersuchte am Beispiel des Online-Killerspiels Jailmod, einem nicht-kommerziellen Produkt von Hobbyprogrammierern, das ein Gefängnis zum Spielraum hat, gewissermassen autoethnografisch, aus der Innenperspektive eines Avatars, den computervermittelten Umgang mit Gewalt als Form der sozialen Praxis.

Das Gründungs- und Organisationsteam erklärte sich in der Schlussdiskussion zur Freude aller bereit, auch die zweite Tagung der Kommission KPUV – zum Thema „Geschmack“ (mit speziellem Fokus auf methodischen Fragen der Populärkulturforschung) – im nächsten Jahr in Tübingen am LUI durchzuführen. Zwecks Erweiterung der Arbeitsbasis wurde Brigitte Frizzoni (Zürich) zur weiteren gleichberechtigten Sprecherin der Kommission gewählt.